Erfolgsgeschichten

Endlich dazugehören

Viele Jahre lang kämpfte ich gegen die übermächtigen Gezeiten der aktiven Sucht. Als Lesbe meinte ich, dass alle mich hassen und dass ich nie das bekommen würde, was anderen so leichtfällt. Ich war überzeugt davon, dass meine sexuelle Orientierung das zentrale Problem in meinem Leben war. Ich wurde jeden Tag wütender und ablehnender gegenüber Menschen und Institutionen. Entfremdung, rechtliche Probleme, Scham, Schuldgefühle, Einsamkeit, Erniedrigung und Verzweiflung rissen mich in einen so wahnsinnigen Teufelskreis, dass ich im Selbstmordmeinen einzigen Ausweg sah. Aus der Notaufnahme des Krankenhauses wurde ich dann in eine Therapieeinrichtung geschickt.

Ich lernte Narcotics Anonymous durch die NA-Mitglieder kennen, die in der Einrichtung Meetings abhielten. Mein einziger Beitrag zu diesen Meetings war der Groll, Ärger, Schmerz und die Hoffnungslosigkeit, die jedes Mal aus mir herausbrachen, wenn ich teilte. Die Leute, die das Meeting abhielten, sagten mir immer wieder, dass es besser werden würde. Obwohl ich mich ständig dagegen wehrte, hinterließen ihr Mitgefühl und ihre Fürsorge ihre Spuren bei mir.

Mit der Zeit hörte ich genauer hin, wenn die anderen Leute im Meeting teilten. Auch die Präambel fand ich interessant, obwohl ich das Gefühl hatte, anders zu sein als alle anderen. Ich begann, mich auf die Meetings zu freuen, da sie mir zeitweise Erleichterung von meinem Schmerz, meiner Verwirrung und Angst gaben. Eines Tages stellte ich fest, dass ich clean blieb. Das war für mich ein Gefühl, als wenn ein Schiffbrüchiger einen Rettungsring entdeckt. Das war meine »bewusste Entscheidung« für das Programm. Ich begriff, dass ich dem Teufelskreis der Zerstörung, den ich hinter mir gelassen hatte, nur entrinnen konnte, wenn ich ihn durch Genesung ersetzte. Die Worte »Ich bin süchtig« gewannen so eine neue Bedeutung für mich.

Je länger ich clean blieb, desto mehr Freiheiten bekam ich von den Therapeuten zugestanden. Ich besuchte Meetings außerhalb der Einrichtung, verbrachte Zeit mit Süchtigen, die bereit waren, mich abzuholen, und ging zu verschiedenen NA-Veranstaltungen. Zum ersten Mal in meinem Leben nahm ich am Leben teil und hatte Spaß, ohne dafür Drogen nehmen zu müssen. Mein Leben war in kurzer Zeit unendlich viel besser geworden. Trotzdem fühlte ich mich noch nicht wirklich zugehörig. Andere Süchtige erzählten mir von ihrer Homosexualität, aber ich hatte den Eindruck, dass sie darüber nicht im Meeting sprachen, weil sie sich schämten. Ich wäre gern in ein Narcotics-Anonymous-Meeting für Schwule und Lesben gegangen, denn ich meinte, dass man dort meinen einzigartigen Lebensstil und meine Gefühle der Entfremdung wirklich anerkennen würde. Schließlich erlaubte mir die Einrichtung, ein solches „Common-Needs-Meeting“[1] zu besuchen. Ich konnte es kaum erwarten, der Gruppe zu erklären, wie seltsam ich die Bezeichnung für diese Meetings fand. Meine Bedürfnisse waren nicht „gewöhnlich“[2]. Ich war eine Lesbe, die versuchte, ein Programm anzuwenden, das Heterosexuelle verfasst hatten.

Nach meinem ersten Meeting für Schwule und Lesben war ich enttäuscht; niemand hatte die offensichtliche Tatsache erwähnt, dass Homosexualität eine Abweichung von der Norm bedeutet. Entgegen meiner Erwartung lief das Meeting überhaupt nicht anders ab als andere Meetings, die ich bisher besucht hatte. Ich ging dort jede Woche wieder hin und hoffte, dass es beim nächsten Mal anders sein würde, aber die Süchtigen redeten über die gleichen Dinge, die ich auch in den anderen Meetings hörte. Ich brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass von mir erwartet wurde, mir einen Sponsor zu suchen, die Schritte zu arbeiten und in die Meetings zu gehen, wie jeder andere auch. Als ich endlich den Mut aufbrachte, einem anderen homosexuellen genesenden Süchtigen meine Empörung und Enttäuschung mitzuteilen, erntete ich Gelächter. Mir wurde gesagt, dass clean zu bleiben an erster Stelle steht; die Lösung für meine Probleme käme später. Ich war erstaunt, dass dieser Mensch die Ungerechtigkeit und den Hass einfach nicht sehen konnte, denen Homosexuelle im Alltag ausgesetzt sind. Clean zu werden war wunderbar, aber dadurch kann man nie die wahren Probleme lösen, denen wir als Schwule, Lesben, Bisexuelle und Transsexuelle ausgesetzt sind. Ich behielt diese Gedanken jedoch für mich und hoffte, dass ich eines Tages einem anderen Homosexuellen würde helfen können zu verstehen, dass man trotz der Entfremdung und dem Hass, die einem begegnen, clean bleiben kann.

Kurz nachdem ich diesen Entschluss gefasst hatte, kündigten die Süchtigen, die das Meeting in der Einrichtung abhielten, aufgeregt an, dass in unserem Bundesstaat eine Narcotics-Anonymous-Convention stattfinden würde. Ihre Begeisterung und ihre Bereitschaft, uns bei dieser Convention zu unterstützen, überzeugten den Leiter der Einrichtung. So machte ich meine erste Reise aus der Stadt heraus, zusammen mit einer Mitarbeiterin der Einrichtung. Auf der Fahrt erfuhr ich, dass sie auch Mitglied von Narcotics Anonymous war und daran glaubte, dass jeder Süchtige mit der Hilfe der Gemeinschaft in der Lage wäre, das Programm mit Erfolg zu arbeiten und clean zu bleiben. Sie gehörte zum Conventionkomitee und war sicher auch verantwortlich dafür, dass ich mitfahren durfte. Wir redeten die ganze Fahrt über das Cleanbleiben und in mir öffnete sich etwas. Ich sagte ihr, dass ich Angst hätte. Innerhalb der Einrichtung clean zu bleiben fiel mir inzwischen leichter, aber ich hatte Angst davor, dass ich bald entlassen werden sollte und dann alleine clean bleiben müsste. Und dann hörte ich das Wichtigste, das mir je ein genesender Süchtiger gesagt hatte: „In der Gemeinschaft von Narcotics Anonymous bist du nie alleine.“ Noch nie hatte ich so sehr an etwas glauben wollen.

Ich war überwältigt, wieviele Leute an der Convention teilnahmen. Ich war mir nicht sicher, wie ich mich fühlte. Am zweiten Tag schlug jemand vor, dass ich am Empfang der Convention Service machen sollte, um die Leute zu begrüßen und zu umarmen. Es fiel mir schwer, aber die anderen Süchtigen bemerkten meine Unsicherheit nicht. Weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte oder wo ich mich verstecken könnte, blieb ich vier Stunden bei diesem Dienst.

Am Nachmittag besuchte ich ein Meeting für Schwule und Lesben. Ich war völlig erschöpft vom Begrüßen und Umarmen und gar nicht in der Lage, meinen Frust und Unmut auszudrücken. Meine Gedanken waren vernebelt und ich kämpfte mit den Tränen. Ich sog jedes Wort auf, das in diesem Meeting geteilt wurde.

Auch in den anderen Schwulen- und Lesbenmeetings, die ich besucht hatte, war die Botschaft geteilt worden. Aber bei diesem Meeting hörte ich das erste Mal schwule und lesbische Süchtige über ihre Schwierigkeiten teilen, sich mit anderen zu identifizieren. Ich erkannte, dass es nicht am Hass der Gesellschaft lag, dass ich mich entfremdet fühlte. Ich musste meinen eigenen Hass bekämpfen. Niemand hatte mir in Bezug auf meine Sexualität so sehr geschadet wie ich mir selbst geschadet hatte, weil ich verbohrt war und mich hinter meiner Opferrolle verschanzt hatte. Ich musste meinen inneren Frieden finden, indem ich die Zwölf Schritte arbeite, und zwar mit der Hilfe eines erfahrenen Süchtigen. Vielleicht war ich einfach zu müde, um mich an diesem Nachmittag gegen die Botschaft zu wehren. Ich merkte nur, dass ich die Energie nicht mehr hatte, mich auf intellektuelle Auseinandersetzungen mit Leuten, die mir helfen wollten, einzulassen. Ich fing endlich an, meinen Weg ins Programm von Narcotics Anonymous zu finden.

Das Erlebnis auf dieser ersten Convention veränderte meine Einstellung zu meinem Leben. Ich sehnte mich nach diesem starken Gefühl von Einigkeit und Gemeinsinn zurück. Meine Bereitschaft schlug Purzelbäume. Ich war bereit, eine Sponsorin zu finden, meine Gedanken zu teilen, die Schritte zu arbeiten und anderen zuzuhören.

Nachdem ich die Einrichtung verlassen hatte, meldete ich mich für alle Arten von Diensten: Kaffee kochen, begrüßen, Stühle stapeln, mit Neuen reden. Ich teilte in den Meetings über meine Schwierigkeiten bei der Schrittearbeit anstatt über die Dinge, die mich an der Welt störten. Niemals ist es mir passiert, dass ich in NA wegen meiner sexuellen Orientierung einen Dienst nicht bekommen habe. Frauen haben mir in Narcotics Anonymous die Chance gegeben, sie zu sponsern, obwohl ich eine Lesbe bin, und als ich selbst eine Sponsorin suchte, war Homosexualität kein Auswahlkriterium. Mein Glaube, dass meine sexuelle Orientierung mich immer von anderen Menschen trennen würde, hat sich erledigt. Meine Stammgruppe hat mich zu Gebietsservicekonferenzen geschickt und es machte mir Spaß, auf dieser Ebene Service zu machen. Nachdem ich dort eine Zeitlang Dienste gemacht hatte, nahm ich am Conventionkomitee für genau jene Convention teil, die damals den Zündfunken für meine veränderte Einstellung gebracht hatte.

Ich wollte immer so sehr dazugehören, dass es wehtat. Jetzt ist dieser Schmerz verschwunden, denn ich kann mit anderen gemeinsam etwas tun und Teil dieser Gemeinschaft sein. Indem ich die Schritte arbeite und die Prinzipien des Programms von Narcotics Anonymous anwende, habe ich sehr viel über mich gelernt. Eines der Geschenke, die ich bekommen habe, ist der tiefe Wunsch, etwas für andere zu tun. Das ist die Medizin, mit der ich die alten Wunden heile, die ich mir durch Wut, Angst, Groll und Entfremdung zugefügt habe. Meine Dankbarkeit für diese Lebensweise kann nicht durch Worte, die ich schreibe, ausgedrückt werden. Sie zeigt sich jedes Mal, wenn ich die Gelegenheit habe, anderen Menschen auf ihrem Genesungsweg zu helfen. Ich danke den Mitgliedern von Narcotics Anonymous dafür, dass sie zum Beispiel durch Schwulen- und Lesbenmeetings einen Raum zur Verfügung stellen, wo ich mich den Gefühlen stellen kann, die ich am Anfang meiner Genesung mit mir herumgeschleppt habe. Ich hatte keine Ahnung, dass der Schlüssel zur Lösung darin lag, mich selbst anzunehmen. Aus dieser Selbstannahme heraus habe ich die Fähigkeit gewonnen, andere anzunehmen und zu lieben. Es ist wirklich ein „Wir-Programm“. Das größte Glück und die größte Zufriedenheit habe ich in der Feststellung gefunden, dass ich schon immer genau so war wie jeder andere auch.

[1] Anmerkung der Übersetzer: Die amerikanische Bezeichnung »common needs meeting« ist eine neuere und weniger ausgrenzende Bezeichnung für „special interest meetings“. Sie bezeichnet Meetings für Mitglieder mit bestimmten gemeinsamen Bedürfnissen. Im deutschsprachigen Raum werden diese Meetings meist mit der jeweiligen Zielgruppe bezeichnet, zum Beispiel Schwulen- und Lesbenmeetings.

[2] Anmerkung der Übersetzer: Die amerikanische Bezeichnung lautet „common needs meeting“. Das Wort „common“ kann sowohl „gemeinsam“ als auch „gewöhnlich“ bedeuten. Auf diese Doppelbedeutung spielt sie an.


Geschichte aus: Basic Text 6. Auflage, Copright Narcotics Anonymous World Services, Inc. Chatsworth, California