Wenn Süchtige Daten – Clean
Wenn Süchtige Daten – Clean
Football ohne Ausrüstung
“Und möchtest Du denn dann noch in der WhatsApp-Gruppe bleiben?” fragt mich S. im Servicemeeting. Ich wende mich ab, und die Antwort, nein das ganze Gespräch, ist mir unangenehm.
“Du, das hat nichts mit dem zu tun, was ich will. Auch nicht was er will. Wir sind hier bei NA und nicht bei Wünsch dir was.”
Sie nickt und schweigt dieses Longtimerschweigen. Sie ist seit über 20 Jahren im Programm und weiß vermutlich besser als ich, was ich meine.
Ich bin mir gerade alles andere als sicher und habe mir gerade aus allen Empfehlungen der letzten 10 Tage eine Entscheidung abgerungen.
Ich verlasse ein lieb gewonnenes Service Komitee.
Aber alles von Anfang an:
Meine Liebesbeziehung zu meinem Freund, der ebenfalls in Genesung ist, ist in die Brüche gegangen. Wir haben uns auf einem Nachmeeting kennengelernt. Wir teilten ein stürmisches und leidenschaftliches Jahr, bis uns unsere Krankheit und der Alltag auf die Füße fielen. Unserem Tango war die Musik verloren gegangen.
Wir hatten im jeweils anderen die bessere Hälfte gesehen. Aber im Fall zweier Süchtiger ist das speziell: Zwei Hälften ergeben hier kein Ganzes. Zwei Menschen, die verzweifelt nach jemand anderem suchen um die Lücke zu füllen sind keine Beziehung: Mehr so etwas wie ein Zugunglück.
Nun muss ich loslassen: Nicht nur die Beziehung, auch mein Stammmeeting und meinen Service.
Ich muss auch lernen, mich darin neu aufzustellen. Und eine wichtige Lektion: Wie man weitermacht und den Schaden dabei so gering wie möglich zu halten.
Dennoch, mein erster Impuls hätte nicht klassischer oder destruktiver sein können:
Ich verabredete mich mit meinem alten Freundeskreis und besuchte am folgenden Wochenende eine Vernissage in einer Kneipe.
Nicht eine Person, die ich dort antraf, war nüchtern und das Getränk der Wahl war irgendein Longdrink mit Wodka, der für alle aufs Haus ging.
In den letzten 3 Jahren habe ich mich nirgendwo so verloren gefühlt, als in dem Augenblick, als ich ein Wasser bestellte und als einzige zahlte. Dabei traf mich der abschätzende Blick einer guten, alten Bekannten, dem Model auf den großformatigen Fotos, die überall um uns herum hingen.
“Was soll das denn werden?”
Unterbrochen wurden wir von einem, mir unbekannten Mann, der sich plötzlich an uns vorbeidrängte, neben mir angekommen, hielt er an, eher aus Zufall oder weil er im Gedränge nicht weiterkam.
Er schaute mich lange und eindrücklich an, als wären wir die einzigen im Raum oder auf der Welt.
“Das ist Doro, die trinkt heute nur Wasser”, hörte ich meine Bekannte sagen. Seine Antwort kam, ohne den Blick abzuwenden: “Warum kenne ich dich nicht. Du hast so ein krasses Charisma.”
Ich, total verunsichert: “Wer bist du nochmal?”
Er:”Ach, total unwichtig.” Und während seine Worte seinen Mund verließen, suchten seine Augen bereits nervös den Raum ab. Er schien mich schon vergessen zu haben.
Ich beschloss, dass dies nicht mehr die Welt war, in der ich sein wollte.
Meine Meetings, in die ich mit meinem Freund gemeinsam gegangen war und auch den Service, den wir teilweise gemeinsam gemacht hatten, konnte ich aber so auch nicht mehr machen.
Jedenfalls, saß er nun dort wöchentlich und teilte vermutlich über seine Gefühle und den Trennungsschmerz. Unser Freundeskreis im Programm hatte sich geteilt und ich spürte die Blicke der anderen, die sein Leid kannten und mit ihm mitfühlten.
Er hatte mir noch im Trennungsgespräch mitgeteilt, dass er nun wieder seine Meetings für sich haben wollte und welche Meetings ihm nicht so wichtig waren.
Es folgte für mich eine Meetingsodyssee. Ich brauchte wieder Anschluss.
Ich konnte nicht nur zu Hause sitzen, putzen, beten und Dankbarkeitslisten verfassen.
Jedes fremde Meeting tat weh. Ich wollte das Alte, Vertraute zurück. Ich hatte nicht nur Liebeskummer nach ihm, ich hatte Liebeskummer nach meinem Stammmeeting.
Irgendwann saß ich in einem Meeting und in der Tagesmeditation ging es genau um mein Thema: Beziehungen und Suchtkranke.
Dass half und ich konnte mich überwinden zum ersten Mal zu meinem Thema zu teilen.
Die Erleichterung kann ich kaum beschreiben.
NA vertritt tatsächlich keine klare Meinung zu diesem Thema. Die Haltung ist, das entnehme ich der Tagesmeditation, der ich zuhören durfte, dass es schon schwierig ist als Süchtiger generell eine Beziehung zu führen.
Das Programm ist in erster Linie um zu genesen, niemand kommt ohne Grund und Vorgeschichte zu NA. Wir sind alle Verwundete und haben verschiedenste Päckchen zu tragen.
Die Gefahr ist mehr als gegeben, dass zwei Süchtige, die sich als Paar zusammentun, sich in ihren angelegten Mustern verlieren. Zwei kranke Menschen, mit schwierigen Lebensgeschichten heilen sich in der Regel nicht, sie handeln danach, wie sie Beziehungen erlebt und gelernt haben.
Eine Freundin schickte mir dann als pdf eine 12 Schritte Literatur zu dem Thema, einen Dating Guide, in dem ich Empfehlungen zu Dating, Beziehungsmustern aber auch Beziehungsabbrüchen für Leute mit Suchterkrankungen las.
Es war so schön, endlich etwas objektives zu meinem Thema zu finden.
Da schrieb mir jemand aus der Seele und gab Empfehlungen, die mich nicht kannte und doch präzise mein Problem beschrieb.
Sucht gilt als “biopsychosoziale” Krankheit. Das ist eine schicke Art zu sagen, dass es Körper, Geist und Seele beeinflusst. Bio bedeutet biologisch, psycho bedeutet geistig und sozial bezieht sich auf Beziehungen.
Jedes Mal, wenn wir uns einem Menschen öffnen, müssen wir uns unserer Familiengeschichte stellen, deren Auswirkungen unser Wesen geprägt hat.
Zusätzlich zu den Herausforderungen, denen fast jeder beim Dating und in der Beziehung gegenübersteht, müssen Menschen, die sich von einer Sucht erholen, ein paar besondere Drachen töten, was cleanes und nüchternes Dating wie die ultimative Reality-Show erscheinen lässt. Dating in der Genesungsphase wird mit Football ohne Ausrüstung, Barfußlaufen über spitze Steine und Zahnbehandlungen ohne Schmerzmittel verglichen, konnte ich dort nachlesen.
Was mache ich nun mit diesen Informationen?
Einen Süchtigen in Genesung zu Daten und später mit ihm eine Beziehung zu führen hat uns zu Verbündeten gemacht. Ich habe mich unglaublich sicher gefühlt.
Ich musste nichts erklären, wir kannten unsere Krankheit.
Außerhalb des Programms trinken fast alle Leute beim ersten Date Alkohol.
Ich würde mir etwas vormachen, wenn ich sage, dass mir das nichts ausmacht.
Durch Vermeidung, trainiere ich allerdings vor allem, den Kopf in den Sand zu stecken.
Den illegalen Drogen kann ich gut aus dem Weg gehen, Alkohol bleibt ein Dauerthema.
Um dafür eine klare Haltung zu finden und gelassener zu werden, bedeutet das zu trainieren und hin und wieder mich der Herausforderung zu stellen, “Nein” zu sagen.
Für mich gibt es ein Leben in NA nach der Beendigung der Beziehung.
Ich habe mir neue Stammmeetings und Servicegruppen gesucht. Auf Empfehlungen hin haben wir beschlossen, uns vorläufig aus dem Weg zu gehen.
In der genannten Literatur habe ich zum ersten Mal darüber gelesen, was wir Süchtigen gerne tun wenn wir mit negativen Gefühlen überfordert sind:
Wir laufen “Amok”
Darin habe ich mich wieder gefunden.
In diesem Fall konnte uns, uns unser Programm, beide, erfolgreich auffangen.
Wir haben nach Empfehlungen gehandelt und unseren Kontakt vorläufig abgebrochen, in der Hoffnung, uns irgendwann wieder, frei von Groll und freundschaftlich zu begegnen.
Doro