Die Macht des Wahnsinns
Es fällt mir schwer, das Bett zu verlassen. Nebel im Kopf, Blei in den Armen. Gleich beginnt das Meeting und ich bin schon viel zu spät dran. Ich weiß, dass ein Meeting genau das wäre, was mir jetzt hilft. Und ich werde es nicht schaffen. Ich liege, schon seit gestern. Will nicht wach sein und kann nicht schlafen. Ich beobachte mich, wie mein Gehirn nach Lösungen sucht. Ich kann nicht einordnen, was mit mir los ist. Das ist keine Depression. Vorgestern habe ich noch einer Programm-Freundin meine Wut und meinen Schmerz durchs Telefon geschrien. Zum Glück hält sie das aus. Zum Glück gibt es Menschen wie sie.
Die Gefühle haben mich wie eine Atlantikwelle erfasst.
Mein Körper ist jetzt ein widerstandsloses Etwas, das die schäumende Gischt zu ihrer Marionette, mal über mal unter Wasser, tanzen lässt. Trauer, Scham, rasende Wut, Ohnmacht und dieser Schmerz, der mich zu der kleinsten und zerbrechlichsten Version meiner Selbst macht. Nichts in mir versteht das „Warum“ dieser Heftigkeit. Ich kenne mich nicht. Ich will die Wut nicht mehr fühlen. Was übrig bleibt ist nur noch Schmerz. Ich habe im Leben zwei Kinder bekommen. Ich hatte das Gefühl damals dabei zerreißen zu müssen und doch ging es so schnell vorbei.
Wenn die Wut der Geburtenschmerz war, ist das jetzt das Wochenbett?
Das ist ein Terrain, das ich nur selten betreten habe. Nicht, dass ich nie schwierige Lebensphasen gehabt hätte… Früher hatte ich nur eine andere, sehr effektive Strategie dagegen: Exzess! Und ja, ich denke gerade viel darüber nach.
Manchmal schlägt mir mein Kopf scheinbar perfekte Szenarien vor, die mir im ersten Moment absolut richtig und vernünftig erscheinen. Und nur weil ich es im Programm stetig wiederhole, weiß ich, dass es nicht richtig ist.
Sie alle kreisen um Sex und Drogen. Drogen und Sex. Deren Beschaffung und deren Konsum. Wo, mit wem, wann und wie. Es gibt noch ein paar alte Freunde, die sich freuen würden, wenn ich wieder dabei bin und mit Ihnen die Spielwiese der Zerstörung und des Selbstbetrugs teilen würde. Was ich mir gerade wünsche sind Strategien und Verbündete gegen das hier und ich will meine Leichtigkeit zurück. Bitte sofort.
Meine Brust brennt von innen, mein Rücken kann nicht mehr liegen und zieht, meine Augen haben keine Tränen mehr.
Wenn wir das 12 Schritte Programm arbeiten, kommen wir um den Begriff Wahnsinn nicht herum. Er beschreibt in unserem Krankheitsbild manische Phasen. Lange Zeit konnte ich mit dem Begriff nichts anfangen. Das Wort “Manie” stammt aus dem Griechischen und bedeutet eben das wonach es sich anfühlt: “Wahnsinn” oder “Raserei”. Es wird oft verwendet, um einen Zustand übermäßiger Begeisterung, Aufregung oder Obsession zu beschreiben. Ich habe viel zu Manie im Netz auf Seiten zum bipolaren Krankheitsbild gefunden. Gerade finde ich mich aber keineswegs in den sich wiederholenden Beschreibungen der Hochstimmung wieder. Der schmerzende Hunger nach Dopamin hat sonst eine Ein-Mensch- Armee aus mir gemacht. Ich habe perfekt erlernt meinem Körper diesen Wunsch zu erfüllen. Was ich fühle ist der Jagdtrieb nach meinem Stoff. Nicht den Drogen.
Ich giere nach Dopamin.
Ich habe mich von meinem Freund getrennt. Liebeskummer. Das ist nicht schön, aber damit kann ich umgehen. Das geht vorbei. Dachte ich. In der ersten Zeit habe ich mein Bad renoviert, dann habe ich viel Zeit mit Joggen verbracht, dann auf Instagram gekocht, zwischendurch gedatet. Ein neuer Job und 180% Engagement erschien mir noch zu wenig. Überstunden und den unbedingten Willen das zu schaffen. Zu Hause angekommen, habe ich mir Besuch eingeladen und Kuchen gebacken. Irgendwann war Weihnachten. Der Plan, wie ich die Tage verbringen wollte war eigentlich ganz gut: Mit einer Freundin ins verschneite Innsbruck. Und dann kam doch alles ganz anders. Erst die Kündigung, dann eine vorläufige Sperre des Arbeitsamtes, als Krönung eine Aufforderung zur Steuerrückzahlung. Also Notfallplan. Notfallpläne kann ich gut (dachte ich). Ich beschloss die Wohnung über die Feiertage unterzuvermieten und bei meinem Bruder einzuziehen. Familienweihnachten. Klang gut (dachte ich). Ich hatte bis dahin bereits drei Monate diese Schlacht um meinen Dopaminspiegel geführt. Ich war erschöpft. Körperlich und geistig.
Weihnachten ist schnell erzählt:
Mein Bruder war kaum ansprechbar. Bei der Bescherung schlief er sogar ein. Er aß kaum und ging früh ins Bett. Ich unterhielt die Kinder und meine irritierte Mutter. Am Tag nach der Bescherung schliefen alle aus. Ich machte Frühstück und suchte nach Kaffee und einer funktionierenden Kanne. Als ich die fand, fand ich darin 5 Kapseln weißen Pulvers versteckt. 3 davon waren bereits leer.
Im Augenblick, als ich sie fand, fühlte ich keinen Suchtdruck. Nur ein Erschrecken, dass es nicht meine Drogen waren und damit das Problem sich wie ein Geschwür in der Familie weiter ausgebreitet hatte. Um mich herum sprangen fröhlich drei Kinder. Es war Weihnachten. Und der Moment, an dem alles aus dem Gleichgewicht geriet.
16 Tage lang.
Das ist aber, zum Glück, nicht die ganze Geschichte. Die ganze Wahrheit ist: Ich habe ein Programm, eine Sponsorin und Programm-Freundinnen. In meiner Hilflosigkeit und meiner brennenden Verzweiflung habe ich meine Mutter angerufen und mit Ihr viele Gespräche geführt. In den 16 Tagen habe ich es geschafft regelmäßig in Meetings zu gehen (zum Glück gibt es Onlinemeetings) und den Rest der Zeit habe ich telefoniert. Ich bin auch mit meiner Mutter zu Al Anon (einem Anonymous Programm für Angehörige von Süchtigen) gegangen und habe viel über meine Coabhängigkeit und meine eigene Krankheit gelernt. Meine regelmäßigen Panikattacken habe ich gelernt weg zu beten. Auch die Entscheidung morgens aufzustehen und meine Pflichten zu erfüllen habe ich Gott überlassen. In meinem ganzen Leben zusammengerechnet, habe ich noch nie so viel Zeit mit beten verbracht.
Ich konnte auch den Verlust meines Partners an Gott abgeben. Mein schreiender Schmerz ist einer stillen Trauer gewichen.
Wahnsinn hat einen verrückten Nebeneffekt, wenn ich aktiv mein Programm arbeite: Es passiert nichts Schlimmes. Im Gegenteil, er gibt mir die Möglichkeit meinen Prozess in Rekordgeschwindigkeit zu erleben und mein Leben zu lenken. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich jemals clean diesen Schmerz gefühlt habe. Aber ich habe noch etwas gefühlt: Ich bin damit nicht allein. Bevor ich meinem Impuls gefolgt bin: Meinen Bruder angeschrien habe, meinen Ex stalkte und in Bedrängnis brachte, mir Drogen besorgte, mich in Gefahrensituationen mit Fremden brachte oder meinem Körper absichtlich Schmerz aussetzte, konnte ich jedes Mal inne halten und mich mit NA-Freundinnen verbinden. Ich gab mir jedes Mal einen Tag Zeit und betete um eine Lösung.
Keinem dieser Impulse bin ich nachgegangen.
Wir haben diesen Joker: Bevor wir ausagieren, können wir uns immer vorher rückversichern. Nicht alles, was uns unsere Gefühle und Gedanken erzählen ist wahr. Ich habe in den intensiven letzten Wochen näher zu meinen Freundinnen, zu meiner Mutter und zu meinem Glauben gefunden. Ich bin immer noch traurig, aber ich bin so frei von Angst wie ich es noch nie war. In zwei Wochen beginne ich meinen neuen Job, den ich mir so ausgesucht habe, dass ich wachsen kann.
Doro