Ich bin mehr als meine Krankheit
Ich bin mehr als meine Krankheit.
Heute nur noch Erinnerungen, damals die unerträgliche Tagesordnung. Meine Psychose. Drogeninduziert. Nachdem ein Joint in einem holländischen Coffeeshop alles veränderte, saß ich fast zwei Jahre, viele Joints und Erfahrungen später, im Gruppenraum einer psychiatrischen Klinik. Ich war als Patientin in deren Tagesklinik aufgenommen worden. Dem Aufenthalt kann ich bis heute nicht viel abgewinnen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass eine tatsächlich fundierte Diagnose gestellt wurde. Trotzdem bekam ich Medikamente, die mich beruhigen sollten. Meine Neuroleptika halfen in jedem Fall, meinen Appetit wieder zu finden. So futterte ich manchmal zwei Mittagessen, schlief, wo ich nur konnte, bastelte, und wurde gezwungen, mich zu bewegen – Tag ein Tag aus. Wenn ich an die Zeit zurückdenke, habe ich immer noch gemischte Gefühle. Aber immerhin hatte ich eine Beschäftigung und konnte nicht gänzlich in meiner Todessehnsucht untergehen.
Die Aussage eines Pflegers dort habe ich dennoch bis heute nicht vergessen. Ein Aussage heute so einleuchtend – damals so unverständlich und frustrierend:
“Das sind deine Symptome. Das bist nicht du. Die Symptome sind NICHT Teil deiner Persönlichkeit und deines Charakters, sie sind nur Ausdruck deiner Krankheit.”
Ich wusste zu dem Zeitpunkt weder wer ich bin, noch wie ich mal war, bevor diese paranoiden Gedankenkreise mich einnahmen. Es fühlte sich so an, als wäre ein Wollknäuel in meinen Kopf explodiert. Kabelsalat. Alles verheddert in der Dunkelheit. Nichts machte mehr Sinn. Ich wollte nur noch sterben. Oder schlafen. Schlafen ging auch. Nur aufwachen war scheiße. Dann wollte ich wieder sterben. Ein Symptom – meine Suizidgedanken.
Ein anderes Symptom war mein Hang zum Übernatürlichen. Ich habe überall Zeichen gesehen, gedeutet und danach gehandelt. Auch Größenwahn hat mich begleitet. So nahm ich an die Wiedergeburt Bob Marleys zu sein und dass ich den Wind mit meinen Gedanken steuern kann.
Außerdem die immer wieder gleichen Gedanken, die sich aufdrängten, bis ich kaum noch normale Gedanken hatte. An anderer Stelle Gedankenarmut – ich wusste oft nicht was ich sagen sollte, weil da nicht viel “Normales” mehr stattfand, in meinem Hirn – Neuronen gecuttet oder so. In dieser Zeit fühlte es sich so an, als wäre nicht mehr viel von mir selbst übrig.
Meine Psychose war ich und ich war meine Psychose.
Außerdem die schwere Depression, die ich obendrauf dazu gewonnen hatte. Sie war wie ein stetiger Begleiter, der mal kommt und geht, wie er will. Ich funktionierte in sozialen Beziehungen kaum noch. Reden fiel mir schwer. Ich zog mich zurück, schlug emotional um mich, fühlte mich zur gleichen Zeit ungeliebt, vertraute niemandem mehr, hörte andere über mich reden, wenn ich dabei war.
Und ich konnte nicht mehr lachen. Einer der wohl drastischsten Verluste.
Diese erdrückenden Zustände in meinem Kopf und die tief traurigen Gefühle waren über die Jahre so intensiv geworden, dass es einfach nicht zu glauben war, dass das jemals aufhört. “Das sei nicht ich, das sei meine Krankheit” konnte ich nicht glauben – wie auch?
Heute, viele Jahre später, muss ich sagen, dass dieser Mann Recht hatte. Die Symptome lösten sich langsam, sehr langsam auf. Einige gingen, neue kamen dazu. Rückblickend betrachtet, war ich viel länger damit konfrontiert, als ich mir eingestehen wollte. Aber sie gingen weg! So konnte ich Jahr für Jahr immer mehr der Mensch werden, der ich eigentlich bin.
Zeit, intensive Arbeit mit mir selbst, viel Geduld, mein Glaube und ein cleanes Leben haben mein wahres Ich wieder ans Tageslicht geholt. Ich war nämlich nie weg. Nur überschattet von Krankheit, Trauer und Selbstzweifeln. Was sich verändert hat: ein Perspektivwechsel. Aus der Rolle des kranken Opfers, zu einer Person, die bereit ist, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Damals schien mir das unmöglich.
Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass ich mehr bin als eine Diagnose, ein Schicksalsschlag, ein Status. Seitdem ich das verstanden habe, hat sich das Gefühl für meinen Selbstwert komplett verändert.
Ich bin nicht mehr nur die Frau mit ihren mentalen Schwächen. Ich bin nicht mehr nur die Frau ohne familiären Rückhalt. Ich bin nicht mehr nur die Süchtige. Ich bin mehr als das.
Auch wenn diese Teile meiner Vergangenheit und Gegenwart für immer zu mir gehören werden, habe ich mehr in meinem Leben als das Leid. Bin ich mehr als die Trauer in Person. Bin ich mehr als meine Krankheit. Da bin ich, mit meinen Schatten und Lichtern, mit meinen Tränen und meinem Lächeln.
Ich nehme alles an, öffne mich für alles Gute und Wertvolle, und LEBE.
Ps. Ich habe vor Jahren angefangen diesen Text zu schreiben, als ich noch nicht wusste, dass ich eine Süchtige bin und was eigentlich wirklich los ist. Meine Psychose ist eines der einschneidendsten Erlebnisse, das ich aufgrund meiner Drogensucht durchleben musste.
Heute macht alles Sinn. Ich bin dankbar, symptomfrei und drogenfrei leben zu können. Danke.