Rückkehr
14 Jahre war ich schon clean gewesen in NA, und das Programm hatte nicht gelogen: Ich hatte alles erreicht, was ich mir gewünscht habe. Keine Drogen mehr nehmen zu müssen, nicht mal das Verlangen danach zu haben. Eine Frau, die ich liebe und die mich liebt, meinen Traumjob und genug Geld zum Leben. Ich war angekommen. Fertig. Und ging nicht mehr in Meetings.
Warum, fragte ich mich nach langer Zeit ohne NA, gehe ich dann, obwohl ich clean bin, jeden Abend mit dem Wunsch ins Bett, am nächsten Tag nicht mehr aufzuwachen? Warum hasse ich mich, warum hasse ich mein Leben? Warum habe ich den immer extremeren Zwang, Pornografie zu konsumieren, manchmal tagelang ohne Unterbrechung? Warum schließe ich mich ein und will niemanden sehen?
Die Rückkehr dauerte Jahre.
Zunächst ging ich gar nicht wieder direkt in Meetings, sondern fing eine ambulante Therapie an. Erst im Laufe dieser Therapie fand ich wieder ein wenig zurück ins Leben. Mühsam, in kleinen Schritten. Ich sprach über mich, über meine Kindheit, Entwicklung und Geschichte. Beschäftigte mich zum ersten Mal nach langer Zeit wieder mit mir selbst. Nahm meine Symptome ernst. Zeitweise konnte ich nicht einschlafen, weil meine Bronchien so laut pfiffen. Ich hörte mit dem Rauchen auf (bin aber nach wie vor Nikotinabhängig). Erst im Laufe der Therapie wurde mir klar, dass es vielleicht eine gute Idee wäre, mal wieder ein Meeting zu besuchen.
Ich fing an mit erst einem, dann zwei wöchentlichen Meetings in 12-Schritte-Gruppen außerhalb von NA.
Es wurde langsam besser. Aber entscheidend besserte sich mein Zustand erst, als ich anfing, Dinge, die im Meeting gesagt wurden, tatsächlich auch zu verstehen – was erstaunlich lange dauerte. Ich habe von einem Freund zig-mal den Spruch „Nüchternheit ist kein leichter Sommermantel, den man sich mal eben überstreift“ gehört und es ging links rein und rechts raus. Aber irgendwann hat es dann „Klick“ gemacht, ich erinnerte mich an die Empfehlung 90 Tage/90 Meetings und ich wusste, was zu tun ist: Ich kam zurück zu NA.
Die Pandemie war insofern ein Glück für mich, dass jeden Abend Online-Zoom-Meetings waren. Anderenfalls wäre es voll berufstätig sehr anstrengend gewesen, jeden Abend in ein Meeting zu gehen. Online sparte ich aber die Fahrzeit, was es leichter machte.
Ich wurde so herzlich aufgenommen, wie ich es niemals erwartet hatte. Tatsächlich war es, wie nach Hause zu kommen. Ich wurde aufgenommen, einfach so wie ich war. Ohne Vorwürfe, ohne Fragen, ganz selbstverständlich, wie ein Familienmitglied, das nach langer Zeit zurückkehrt.
Das erste halbe Jahr besuchte ich jeden Abend ein Meeting, und das hat mich verändert. Ich bin seit 8 Monaten frei von sexsüchtigem Verhalten. Ich habe (wieder) begriffen, dass ich ein kranker Mensch bin und Heilung durch die Meetings, durch das Programm und Euch brauche, um zufrieden leben zu können. Ich habe einen Sponsor und beschäftige mich mit ihm zusammen intensiv mit dem Programm. Und heute Morgen habe ich in mein Tagebuch zum ersten Mal den Satz geschrieben „Ich liebe das Leben“ und es sogar ein wenig geglaubt.
Was mich überrascht: Ich nehme NA, ich nehme Euch ganz anders wahr, als ich es in der ersten Zeit meiner Abstinenz von Drogen tat. Damals war es mehr ein „Ich“ und „Ihr“, heute ist es ein „Wir“. Ich freue mich so sehr, wenn ich sehe, wie andere Freunde und Freundinnen in NA frei von Drogen bleiben können, wie sie sich entwickeln, welche Kraft und welche Liebe in ihnen steckt!
Ich danke Euch von ganzem Herzen für die bedingungslos liebevolle Aufnahme. Ich hoffe, dass ich NA nie wieder verlassen werde. Ich hoffe, ich habe meine Lektion gelernt. „Hauptsache clean“ stimmt. Aber nur, solange ich auf dem Weg bin. Wenn ich erstarre, mich isoliere und mich nicht mehr mit meiner höheren Macht beschäftige, gewinnt meine Krankheit, die Krankheit Sucht, wieder die Oberhand.
H., süchtig