Briefmarken-Meetings – in Zeiten von Zoom
Freitagabend, auf den Bordsteinen lümmeln Menschen, rauchen, nippen an Getränken, lachen an den Stellen, in denen es von ihnen erwartet wird, die Lichterketten an den Markisen sind zu grell, um für Gemütlichkeit zu sorgen. In mir laufen die Synapsen heiß, die Ängste überbieten sich, die Sorgen schlagen Purzelbäume und gerate ich so in die olle „Was ist, wenn…“-Spirale. Ja, ich könnte in meinem Telefonbuch nach „NA“ suchen und würde einen Haufen von Nummern finden, aber ach, so schlimm ist es ja nicht, ich habe ja keinen Suchtdruck, ist ja nicht so, als habe ich das erste Mal in meinem Leben dieses mulmige Gefühl der sich anbahnenden Gefühlswelle. Dabei muss ich gar keinen Schiss haben, dass ich von ihr in die Tiefe gerissen werde und ertrinke – intuitiv zücke ich mein Handy aus der Hosentasche, öffne die NA-Seite und tippe auf „zum Video-Meeting“.
Es ist wirklich so einfach wie noch nie an einem Meeting teilzunehmen. Als die Welt noch normal war, hörte ich schon von einem Telefonmeeting am Morgen. Allerdings war ich dem ganzen sehr skeptisch gegenüber, schließlich sehe ich die Menschen ja nicht, so bringt das doch nichts, außerdem kann ich dann gar nicht kontrollieren, wer was von mir hört. Im März 2020, als NA innerhalb kürzester Zeit auf die glorreiche Idee der Online-Meetings über die App Zoom kam, blieb mir nichts anderes übrig – entweder ich traue mich, oder ich versinke in meiner Isolation. Hallo Vorbehalte, schön, dass ihr da seid. Setzt euch hin, schaut zu, wie ich mutig bin und haltet die Klappe.
Vor dem ersten Online-Meeting positionierten mein Ego und ich den Laptop auf einem wackeligen Bücherstapel, um einen bestmöglichen Eindruck in meine Bude zu gewährleisten. Nach 1,5 Jahren sind mir die Mitglieder nun so vertraut, dass ich auch mit Handtuch auf’m Kopf, Kissenabdrücken auf der Wange oder mit dicken Augen vor der Webcam sitze.
In Berlin ging ich „damals“ in die Meetings, wo mich die öffentlichen Verkehrsmittel schnellstmöglich ausspuckten und begrenzte mich somit selbst. Nun kann ich einfach auf die NA-Seite und überall hin – in jeden Bezirk, jede Stadt und theoretisch auch jedes Land. Manchmal überfordert mich diese große Auswahl aber auch. Ich darf erkennen, dass allein schon die Berliner Gemeinschaft so riesig ist, wie ich es mir vorher niemals vorstellen konnte. Einige von ihnen sah ich bis dato noch nicht in einem überfüllten Raum an einem der bekannten Tische, dafür nun beinah täglich im Internet. Zwar weiß ich nicht, wie groß sie sind, aber kenne ich dafür einen kleinen Einblick in ihr Zu Hause. Ich lerne Menschen kennen, die ich vermutlich so niemals getroffen hätte. Vermutlich, denn was weiß ich schon.
Dank der Zoom-Erweiterung erweitert sich auch mein Horizont. Jedes Mal, wenn ich den Mut aufbringe in einer fremden Stadt in ein Meeting zu hüpfen, werde ich dafür mit einem unbekannten Format oder anderen Erfahrungen belohnt. So bemerkte ich zum Beispiel, dass der Frankfurter Raum eine andere Definition vom Burning Desire als Berlin hat. Regionale Unterschiede werden sichtbar, auch wenn wir am Ende alle eines sind: Süchtige in Genesung. Während der Zoom-Zeit durfte ich auch mehr in den Kontakt mit unserer Literatur kommen, denn ich besuche nun Meetings, die z.B. am Anfang einen Abschnitt aus dem „Clean Leben“ oder aus dem „Basic Text“ zur jeweiligen Tradition des Monats vorlesen. Von selbst schlage ich die Literatur nämlich nicht auf.
In Berlin fanden irgendwann wieder Präsenzmeetings statt. Vorfreude und Angst kamen im Jutebeutel mit. Den echten sozialen Kontakt kann Zoom zwar nicht ersetzen, doch ist es auch schön nach 90 Minuten die Möglichkeit zu haben den Laptop zuklappen zu können und mich nicht meiner Unsicherheiten im sozialen Miteinander stellen zu müssen. Vermeintlich unbemerkt per Mausklick verschwinden zu können kommt mir da manchmal sehr gelegen. So auch die Möglichkeit, fürchterlich zu spät ins Meeting zu kommen (jaja, ich weiß doch, dass man nie zu spät in ein Meeting gehen kann), wenn die Hütte gerade brennt oder ich einfach aus meinem Kopf heraus möchte. Im Grunde genommen kann ich rund um die Uhr ins Meeting. Und auch da gibt es Nachmeetings – nur muss man sich selbst um Kaffee und den Abwasch kümmern. Bis spät in die Nacht sitze ich manchmal da, kichere über Tiervideos oder wundere mich, wie viel Tiefgang es auch in diesem ominösen Internet gibt. Hin und wieder wird auch da die Redner*innen-Liste weitergeführt, damit jede*r gehört wird und keine Kachel übergangen. Für das Bedürfnis nach Struktur und routinierten Abläufen liebe ich uns Süchtige.
Dabei merke ich schon auch, dass ich gerne abtauche, mein „echtes“ Leben verdränge und lieber auf den Bildschirm gucke, als meine Lohnsteuerbescheide für den BAföG-Antrag rauszukramen. Denn bald darf ich studieren – in einer Kleinstadt, in der es nur ein Präsenzmeeting in der Woche gibt. Gott sei Dank nehme ich euch mit und kann durch meinen Laptop mit euch in Verbindung bleiben. Heute darf ich Menschen meine Freund*innen nennen, die über die „Briefmarken“ (so nannte mal ein Mitglied die Zoom-Kacheln) in meine Wohnung flatterten. Manche von ihnen klebte ich in mein Herz. Klingt kitschig, ist es auch.
von Franzka